Weltentstehung, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube in der Schule
Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 94, 2008
Vorwort
Über Weltentstehung, Evolutionstheorie und Schöpfungsglauben sowie über die Behandlung dieser Themen in der Schule wird derzeit eine intensive Debatte geführt. Das ist zu begrüßen, denn es handelt sich um eine grundlegende Frage unseres Weltverständnisses. Dem Stand naturwissenschaftlicher und theologischer Einsichten sowie einem differenzierten Bildungsverständnis werden viele Beiträge zu dieser Debatte jedoch ebenso wenig gerecht wie einem evangelischen Verständnis des Schöpfungsglaubens.
"Bildung meint den Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein und Handeln im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens" - so heißt es in den evangelischen Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, die der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in seiner Denkschrift "Maße des Menschlichen" entfaltet hat. Zwischen dem heute verfügbaren Wissen und der sinnstiftenden Deutung des Lebens aus der Perspektive des christlichen Glaubens wird in diesem Konzept von Bildung bewusst und deutlich unterschieden; doch diese Unterscheidung ermöglicht es gerade, beide in eine sinnvolle und geklärte Beziehung zueinander zu setzen. Viele Debattenbeiträge zum Verhältnis zwischen dem Schöpfungsglauben auf der einen und naturwissenschaftlichen Theorien über die Entstehung der Welt und des Lebens auf der anderen Seite sehen dagegen beide Seiten auf derselben Ebene. Deshalb gehen sie davon aus, dass entweder die Evolutionstheorie dem Schöpfungsglauben oder der Schöpfungsglaube der Evolutionstheorie weichen muss. Das wird jedoch weder der einen noch der anderen Seite gerecht.
Weder die Angriffe eines neuen Atheismus auf den biblischen Schöpfungsglauben noch die im Namen des christlichen Glaubens vorgebrachten Angriffe auf die Evolutionstheorie treffen deshalb die jeweils andere Seite im Kern. Gewiss gibt es Auslegungsformen des biblischen Schöpfungsglaubens wie der Evolutionstheorie, die der Kritik bedürfen. Eine sachgemäße, ja sogar notwendige Kritik an problematischen Auslegungsformen wird jedoch erst möglich, wenn man sich aus falschen Alternativen befreit hat. Die Überwindung solcher falscher Alternativen und die Ermöglichung sachgemäßer Kritik gehören aber gerade zu den Kennzeichen eines evangelischen Glaubensverständnisses. Deshalb ist es an der Zeit, dass die ebenso konstruktive wie kritische Verhältnisbestimmung zwischen der theologischen Auslegung des Schöpfungsglaubens und der naturwissenschaftlichen Theoriebildung zur Entstehung der Welt und des Lebens aus evangelischer Sicht in knapper Form dargelegt wird.
Die Diskussion solcher Fragen verläuft in Deutschland anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten von Amerika. Trotzdem ist eine grundsätzliche Klärung zu-gleich von erheblicher praktischer Bedeutung. So wird auch hierzulande die Frage erörtert, ob im Biologieunterricht auf den biblischen Schöpfungsglauben und ob im Religionsunterricht auf die Evolutionstheorie Bezug zu nehmen sei. Auf der Linie der hier vorgelegten Überlegungen liegt es, das Verhältnis zwischen beiden Betrachtungsweisen vorzugsweise in interdisziplinären Unterrichtsprojekten zu klären. Dann können biologische und theologische Perspektiven jeweils in ihrer Eigenbedeutung zur Geltung gebracht werden. Und es wird deutlich, dass man die Beziehung zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen nur dann zureichend bestimmen kann, wenn man zuvor gelernt hat, sie voneinander zu unterscheiden. Das aber setzt voraus, dass sowohl hinsichtlich der biologischen als auch hinsichtlich der theologischen Fragen die gebotene Sachkenntnis gegeben ist und in den Schulen auf pädagogisch angemessene Weise zum Ausdruck kommt. Das gilt auch für die Fälle, in denen im Biologie- oder im Religionsunterricht über das Verhältnis von Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie gesprochen werden soll.
Zu der für solche Dialoge notwendigen Sachkenntnis und zur Urteilsfähigkeit in dieser grundlegenden Frage will der Rat der EKD mit der hier vorgelegten Orientierungshilfe beitragen. Sie wurde von Prof. Dr. Michael Beintker und Prof. Dr. Friedrich Schweitzer entworfen. An der Entstehung des Textes waren beratend beteiligt Prof. Dr. Martin Rothgangel, Prof. Dr. Ernst-Joachim Waschke, Prof. Dr. Michael Welker und weitere Mitglieder der beiden Kammern für Theologie sowie für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend; mitgewirkt haben ferner Oberkirchenrat Dr. Vicco von Bülow und Oberkirchenrat Matthias Otte, beide im Kirchenamt der EKD. Ich danke der Autorengruppe sehr herzlich dafür, dass sie sich dieser Aufgabe angenommen und das Ergebnis ihrer Überlegungen innerhalb von kurzer Frist vorgelegt hat.
Ich wünsche dieser Orientierungshilfe Aufmerksamkeit und Verbreitung bei allen, die sich in Schule und Gesellschaft mit den Fragen der Entstehung der Welt und des Lebens auseinandersetzen und der Bedeutung des biblischen Schöpfungsglaubens nachgehen. Für die allgemeine Bildung wie für den persönlichen Umgang mit diesen Themen ist es nötig, sich nicht der Oberflächlichkeit anheimzugeben, sondern sich tiefer liegenden Einsichten zu öffnen und sie in angemessener Weise zur Sprache zu bringen.
Berlin/Hannover, im Februar 2008
Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland